Schmid sieht die DDR-Einverleibung dramatisch gescheitert: »Ein Vierteljahrhundert nach den Ereignissen, die zur Selbstauflösung der DDR führten, kann von einer Einheit der Deutschen ernsthaft nicht die Rede sein.« Es gebe »noch immer einen geistigen Ost-West-Graben«. Das allerdings liege nicht an den Westdeutschen. Deren Unschuld ergebe sich daraus, dass sie sich im Lauf der Zeit mit dem aus ihrer Sicht unerfreulichen Ende der DDR, »die so penetrant mit schlechter Vergangenheit imprägniert war«, abgefunden hätten. Das schreibt einer, der im Globke-Staat aufwuchs. Die Westdeutschen hätten sogar das »gewaltige Soli-Manöver« akzeptiert und »ein gelindes Interesse an den neuen Ländern entwickelt«.
Aber der Osten. »Brutale Kolonisierung«? An diese »Folklore der Linkspartei« glaubten selbst die meisten Anhänger der Partei »nicht mehr wirklich«. Aber es gebe eben dieses »Sonderbewusstsein Ost«, das sich zum Teil aus der Abgrenzung gegenüber dem Westen nähre. Dem werde nicht abgenommen, »dass er sich so an seine Regeln hält, wie es die politischen Lehrbücher beschreiben«. So wird die Ost-Ethnographie um schöne Formulierungen bereichert. Denn Schmid meint nicht den Import von Massenarbeitslosigkeit, Krieg und Kriegsbeteiligung (mit einem überproportional hohen Anteil Ostdeutscher in der Bundeswehr), also die Regeln des alltäglichen Kapitalismus, er meint nicht die aus ihnen resultierende Abwanderung Ost, schrumpfende Bevölkerung und ökonomisch wie ökologisch beruhigte Landstriche, sondern - die Mehrwertsteuer. Die werde im Osten vielerorts »Märchensteuer« genannt. Der Ostdeutsche ist endlich als Fiskalquerulant entlarvt. Das richtet ihn.
Für den ehemaligen Verlagsmanager gibt diese Ossi-Quengelei dem Bewusstsein im Reservat Struktur. Kleiner Anlaß, grundsätzlicher Unterschied: »Während sich im ehemaligen Westdeutschland allmählich die Überzeugung durchgesetzt hat, dass Staat und Bürger zusammengehören, gilt der Staat im Osten oft noch als das Andere, das – wenn auch ernährende – Fremde, mit dem man möglichst wenig zu tun haben möchte.“ Es sei dahingestellt, woher Schmid seine Kenntnisse über das intime Verhältnis der Einwohner zum Staat im Westen und die Scheu im Osten hat. Fest steht, daß seine Herablassung zum Studium des zweifellos niederen Bewusstseins Ost derselben Siegerattitüde entspringt, mit der Thilo Sarrazin und Horst Köhler vor 25 Jahren ihren perfiden Plan für die Einführung der D-Mark in die DDR entwickelten – entgegen allen Warnungen von Fachleuten und die katastrophalen sozialen Folgen kühl kalkulierend.
Die Gewalt spürte jeder im Osten, den Prozess der Zerstörung sozialer, familiärer, individueller Verhältnisse und Perspektiven, der noch andauert. Einem Schmid sind die vergangenen 25 Jahre keine Zeile wert. Er kommt am Ende seiner Predigt aus dem Geist jener Moral, mit der jeder Krieg des Westens seit 1990 geführt wird, aufs mediale Amen: „Der sozialistische Staat hat seinen Bürgern das Interesse an Gesellschaft und Staat nachhaltig ausgetrieben.“ Die Verankerung des ostdeutschen Desinteresses im einst forstwirtschaftlichen Terminus „nachhaltig“ spricht für sich. Wenn einer wie Schmid über die Geschichte der vergangenen 25 Jahre nicht reden will, landet er im Rassismus. Stimmen könnte, daß die Ostdeutschen den West-Staat ziemlich häufig nicht mögen. Aber Gründe interessieren das Herablassungsbewusstsein West nicht.
Marginalie:
Wenn einer wie Schmid über die Geschichte der vergangenen 25 Jahre nicht reden will, landet er im Rassismus. Stimmen könnte, daß die Ostdeutschen den West-Staat ziemlich häufig nicht mögen. Aber Gründe interessieren das Herablassungsbewusstsein West nicht.
(Aus "junge Welt" vom 4./5.10.2014 - Wochenendbeilage)